Inhalt: Hat Israel noch eine Zukunft?
Die ach so intelligenten Europäer haben das Gefühl, sie wüssten
die Lösung im Nahostkonflikt. Gebt den Palästinensern doch einfach
ihren eigenen Staat und schon haben wir Frieden. Amen. Dabei vergessen sie
nur zu oft, dass eigentlich Europa eine sehr grosse Schuld hat am ganzen
Konflikt: Die Engländer, weil sie sowohl Juden wie Arabern eine Heimstätte
versprachen, die Europäer insgesamt, weil sie aus schlechtem Gewissen
wegen des Holocausts den Juden erlaubten, in Palästina einen eigenen
Staat zu gründen, was aber nur auf Kosten unschuldiger Araber geschehen
konnte! Die Araber mussten also für die unglaublichen Geschehnisse in
Deutschland büssen - anstelle der Europäer. Aber aufgrund des Kolonialismus
war das ja bisher immer so gewesen...
Nach intensiver Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt komme ich zum Schluss,
dass nach den Fehlern - meiner Meinung nach vor allem auf israelischer Seite
- heute kaum noch eine Hoffnung auf eine Lösung dieses Konflikts besteht.
Also doch wieder eine antiisraelische Hasstirade? Nein, keineswegs. Aber
die israelische Politik der letzten dreissig Jahre hat in eine Sackgasse
geführt und ich befürchte, dass diese Politik den Staat Israel
seine Existenz rauben könnte.
Welche Alternativen stehen uns nach dem gescheiterten Osloprozess und der
destruktiven Politik Sharons noch offen? Es scheint fünf Möglichkeiten
zu geben:
- Status quo
- zwei getrennte Staaten
- die Vertreibung der Palästinenser
- die Vernichtung des israelischen Staates
- ein wie auch immer geartetes gleichberechtigtes Zusammenleben
Der Status quo kann wohl noch einige Jahre aufrechterhalten werden, doch
mittel- bis langfristig hat er keinen Bestand. Gleichsam ist ein friedliches
Zusammenleben nach all den Gräueltaten der letzten Jahre kaum noch denkbar.
Nur: geschah in Europa im Zweiten Weltkrieg nicht viel Schlimmeres und wir
leben seither doch sehr friedlich miteinander? Sollte eine Lösung, wie
sie Joseph Galtung formuliert hat, möglich sein, dass also die Palästinenser
und Israelis in einem "Kantonalstaat" friedlich zusammenleben? Eine solche
Möglichkeit erscheint utopisch, doch zugleich auch die einzige hoffnungsfrohe
Alternative! Denn zwei getrennte Staaten wird es nie geben!
Zwei getrennte Staaten wird es nie geben. Ich wiederhole diese wichtige Passage,
denn diese von den Europäern als einfache und evidente Lösung ist
nicht mehr möglich. Der Grund: Die jüdischen Siedlungen.
Es beruht auf ziemlich naivem Denken, dass irgendeine israelische Regierung - ob rechts oder links - jemals imstande sein wird, die Siedlungen zu räumen. Der Rechten fehlt der Wille (vgl. die Regierung Sharon im November 2002), der Linken die Macht. Denn kein religiöser Siedler wird sich von einer linken (wohl auch nicht von einer rechten) Regierung seine Heimstätte in den besetzten Gebieten nehmen lassen! Dass Juden gegen Juden das Gewehr erheben, um Juden aus ihrer biblischen Heimat zu vertreiben ist eine unvorstellbare Vision. Und insofern stelle ich auch den Friedenswillen von Yitzhak Rabin in Frage, der von zwei Staaten redete, gleichzeitig die Siedlungen weiter ausbaute! Müssten die Siedlungen geräumt werden und würde den Arabern ein eigener, lebensfähiger Staat zugestanden (kein Fleckenteppich, wie ihn Barak in Camp David Arafat anbot, sondern einen richtigen Staat), würde mit Sicherheit ein Bürgerkrieg in Israel ausbrechen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass gewisse strategisch und biblisch wichtige Siedlungen jemals wieder aufgegeben werden! Und geschieht das nicht, wird es keinen lebensfähigen Palästinenserstaat geben! (vgl. dazu Spiegelartikel: nur 10-12% der Siedler würden sich gegen Rückzug wehren)
Welches sind also die realistischen Alternativen? Der Status Quo kann nicht
über Jahre oder Jahrzehnte aufrechterhalten werden. Solange Israel stark
ist, wird es seine Repressionspolitik anwenden, doch was geschieht, wenn
Amerika einen neuen Präsidenten erhält? Wenn Israel wegen seiner
unmenschlichen Politik den Palästinensern gegenüber international
boykottiert wird und sich die momentane Wirtschaftskrise noch massiv verschärft?
Kann ein so kleines Land über Jahrzehnte im Ausnahmezustand leben und
hunderttausende Soldaten durchfüttern? Was geschieht, wenn die Araber
selbst im Kernland Israel die demographische Mehrheit werden (aufgrund höherer
Geburtenraten)? Irgendwann werden sich die Palästinenser rächen
- und das hätte Israel zu einem grössten Teil selbst zu verantworten
- wegen seiner Siedlungs- und Repressionspolitik.
Wird also nicht bald eine friedliche Lösung im Sinne von Galtung gefunden
(und die zeichnet sich nicht ab), dann sehe ich nur zwei realistische Möglichkeiten:
ENTWEDER ISRAEL ODER PALÄSTINA! Entweder gelingt es Israel z.B. im Gefolge
eines Irakkrieges die Palästinenser zu vertreiben (wie es schon einmal
Ende der Vierziger Jahre geschah vgl. z.B. Pott
S. 44f) oder der Staat Israel wird in einigen Jahrzehnten nicht mehr existieren!
Durch die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten (die nur von wenigen
Prozent der israelischen Gemeinschaft als notwendig angeschaut wird) wurde
ein Frieden verunmöglicht (was David Ben Gurion kurz nach dem Sechstagekrieg
1967 voraussah). Denn es ist eine Illusion zu glauben, dass die Siedlungen
- ausser einiger irrelevanter illegaler Aussenposten - jemals aufgegeben
werden können ohne einen jüdischen Bürgerkrieg zu provozieren.
Und ein solcher ist nach der zweitausendjährigen Leidensgeschichte des
jüdischen Volkes kaum mehr denkbar!
Werden die Siedlungen aber nicht geräumt, wird es nie einen lebensfähigen
Palästinenserstaat geben. Und ohne lebensfähigen Palästinenserstaat
auch keinen Frieden.
Die Tragik der momentanen Entwicklung ist, dass in beiden "Lagern" die Extremisten
eine unglaubliche Übermacht besitzen. Nur wenige Juden wollen die Palästinenser
vertreiben und viele Palästinenser würden alles geben und akzeptieren,
wenn sie endlich unter normalen Umständen leben könnten. Doch einige
extremistische Selbstmordattentäter und einige radikale Siedler verunmöglichen
einen Friedensprozess, der für beide Seiten die einzige längerfristige
Perspektive bedeuten würde - ein Leben in zwei Staaten oder in einem
Staatenbund.
Die Selbstmordattentate haben einen hohen Wirkungsgrad erreicht. Die israelische
Gesellschaft will in Frieden leben - und genau dies wird durch die Attentate
verunmöglicht. Doch Repression wird keinen Erfolg zeigen - die Attentate
werden nie allein mit Repression unterbunden werden können. Dazu ist
es zu einfach, einen Sprengstoffgürtel zu basteln und sich in die Luft
zu sprengen. Und dank der unglaublich ignoranten israelischen Politik werden
diese Selbstmordattentäter noch dazu ermuntert, weiterzumachen.
Die einzige Möglichkeit, in naher Zukunft etwas radikal zu verändern,
sehe ich im gewaltfreien Widerstand. Man stelle sich vor:
Hunderttausend Palästinenser und Palästinenserinnen marschieren
OHNE WAFFEN auf Jerusalem zu. Ihnen schliessen sich Hunderttausend Israeli
an. ABSOLUT Gewaltfrei. Jeder Schuss eines israelischen Soldaten auf diese
unbewaffnete Menge, die jeden Kontrollposten durchschreiten könnte,
wäre ein Todesstoss für die jetzige, repressive israelische Politik.
Als welches Ungeheuer müsste Israel dastehen, wenn es auf friedliche
Demonstranten schösse - zumal auch auf jüdische! Wie lange könnte
es wohl mit Gewalt antworten? Wie schnell wäre es international isoliert?
Wie schnell würde ein politischer Prozess in Gang kommen? Ich bin überzeugt,
dass eine überwältigende Mehrheit sowohl auf israelischer wie auch
auf palästinensicher Seite für Frieden ist. Für ein Ende der
Selbstmordanschläge wie auch für ein Ende der menschenunwürdigen
Besatzung. Mit einem Friedensmarsch in diesem Ausmass könnte ein politischer
Prozess in Gang gebracht werden, der vielleicht noch das entweder - oder
verhindern könnte. Bleibt ein Friedensmarsch aber Utopie, sehe ich keinen
anderen Ausweg ausser den Sieg des Stärkeren. Und ich wünsche über
alles, dass den Israeli nicht zuletzt wegen ihrer eigenen Geschichte dieser
Weg erspart bleiben wird. Sowohl als "Sieger" (mit einem moralisch-schlechtem
Gewissen und der Brandmarkung als skrupellose und brutale Macht) als auch
als "Verlierer" (mit der Vertreibung der Juden aus Palästina) Denn ich
befürchte, dass in beiden Fällen vor allem die Juden die Verlierer
sein werden, da sie viel mehr zu verlieren haben, als die Palästinenser!
Martin Rey. 4. Nov. 2002.