Inhalt: Gegenwartsbezug
Interpretationen benötigen Zeit. Mit historischer Forschung
kann man die Ursachen von gegenwärtigen politischen Problemen
verstehen und Lösungsstrategien für heutige und zukünftige
Es gibt immer Gründe für eine Handlung oder Tat - selbst
wenn diese einem selbst nicht bewusst sein sollten. Geschichte ist der Versuch,
diese Gründe - mit Hilfe von zeitlicher Distanz und einer möglichst
grossen Auswahl von Quellen - zu eruieren und damit ein besseres Verständnis
des Weltgeschehens zu erreichen.
Klassische Geschichtsschreibung grenzt sich vom Journalismus dadurch
ab, dass der Historiker frühere Ereignisse mit Hilfe einer möglichst
breiten Quellenauswahl in unter Umständen jahrelanger Arbeit neu zu
interpretieren und darzustellen versucht, während der Journalist seine
Texte innert stunden- oder wochenfrist schreiben muss. Durch die Distanz
vom Geschehenen versucht der Historiker Zusammenhänge zu erkennen, die
zum Zeitpunkt des Geschehens nicht sichtbar waren. Dies wird dadurch ermöglicht,
dass der Historiker die Folgen des Ereignisses kennt, die dem zeitgenössischen
Journalisten fehlen.
Leopold von Ranke hat Mitte des 19. Jahrhunderts diese neue Art von
Geschichtsschreibung begründet - früher galt Zeitgeschichte als
die beste Art von Geschichtsschreibung. Ranke glaubte hingegen, dass Ereignisse
besser verstanden werden können, wenn sie durch einen gewissen zeitlichen
Abstand betrachtet werden. Im Extremfall bedeutet dies, dass ein heutiger
Historiker besser Bescheid wissen sollte über ein historisches Ereignis,
als eine Person, die als Augenzeuge dabei war.
Die Zerstörung des
World Trade Centers in New York am 11. September 2001 hat ein
neues Zeitalter eingeleitet. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der
Auflösung des sowjetischen Imperiums herrschte in den 90er Jahren eine
Phase der Ideologielosigkeit, des Genusses, der "Welthinwendung" des
Konsums, wie wir sie auch im Barock erkennen können. Nach
einer historischen Phase der Spannung kommt eine Phase der Entspannung.
Terroranschläge in grösserem Umfange waren zu erwarten gewesen
- von dieser Heftigkeit waren sie aber kaum vorauszusehen. Ein guter
Historiker mag Tendenzen zu erkennen und wird deshalb besser vorbereitet
sein, um Strategien zu entwickeln, wie nun weiter fortzufahren sei. Er kann
aber nie die Zukunft voraussehen - wie es der historische Materialismus
für sich in Anspruch nahm.
Einige der wichtigsten Ursachen des islamistischen
Fundamentalismus liegt begraben im Kalten Krieg. Die beiden Weltmächte
Sowjetunion und USA führten überall auf der Welt "Stellvertreterkriege",
finanzierten also in Drittländern je eine Seite von Konfliktparteien.
So geschehen in Vietnam, aber auch in vielen afrikanischen Ländern,
im Nahen Osten und in Afghanistan. Es entbehrt nicht einer gewissen
Ironie, dass die USA Mitte der Neunziger Jahre die Taliban unterstützten,
um innere Stabilität in Afghanistan zu erreichen. Nur so konnte
gewährleistet werden, dass eine geplante Erdölleitung, die
durch diese Gegend führen sollte, auch gebaut werden könnte.
Die Waffen der Afghanis stammen grösstenteils
aus sowjetischen und amerikanischen Beständen. Osama Bin Laden
soll einmal auf der Lohnliste des CIA gestanden haben, um die Sowjets
während des Afghanistankrieges (1979-1989) zu bekämpfen.
In Zentralasien treffen sich alle heutigen
Weltmächte: China, der Islam (besonders der Iran),
Russland und mit einem schwachen Standbein, der
Türkei, die USA. Es gibt in dieser Gegend nicht nur grosse
Rohstoffvorkommen, sondern es handelt sich auch um eine
strategisch äusserst wichtige Region. Für die USA
bietet sich jetzt die Gelegenheit, sich ebenfalls mit Hilfe
eines Satelliten in Zentralasien eine wichtigere Stellung zu
sichern. Wenn es ihnen gelingt, in Afghanistan eine ihnen
genehme Regierung einzusetzen.
(Stand 28.09.2001)
- Apokalypse: mit der Apokalypse
beginnt das Ende der Welt, danach kommt Gottes Reich. Ein Anschlag wie derjenige
auf das World Trade Center sollte wohl die Amerikaner dazu bringen, dem Islam
den Krieg zu erklären, was zum Heiligen Krieg führen dürfte
und die Endschlacht zwischen Gut und Böse heraufbeschwören. (Gedanke
aus Spiegel 41/2001, S. 164)